Der moderne Turner wird geformt
Im 19. Jahrhundert entstand das moderne Gefängnis, wie wir es heute noch kennen. Darin wurden neue Techniken der Disziplinierung und Dressierung entwickelt, die auf die Straftäter viel umfassender einwirkten, als dies in früheren Zeiten der Fall war. Die strikte Einhaltung von zeitlich durchgetakteten Tagesabläufen, das Abgewöhnen und neue Einüben von Haltungen bis hin zu kleinsten Gestiken und die totale Unterwerfung unter die Maschinerie der Gefängnisinstitution zielten letztlich auf eine umfassende Änderung der Wesensart der Straftäter. Damit wirkte die Machtausübung auf die Sträflinge nicht nur negativ, sondern konnte produktiv gemacht werden, indem sie Fähigkeiten und Leistungskraft steigerte und die Täter zu brauchbaren Bürgern formte. Von den Strafanstalten gingen diese Techniken auf die Gesellschaft über: das Militär, die Schule und insbesondere den Turnverein. Und so wurden auch dieses Jahr die verwöhnten modernen Individualisten des TV und DTV Seuzach ins Trainings(straf)lager zitiert. Ein absoluter Pflichtanlass. Wenn man da nicht mitmachen will, muss man mindestens eine Beerdigung vorweisen können – und auch diese wird vom Oberturner in der Regel nur als Entschuldigung akzeptiert, wenn es die eigene ist. Die herzlosen Leiter marterten die Körper der Teilnehmer über Tage hinweg, um diese produktiv zu machen für den turnerischen Wettstreit dieses Jahres. Während es draussen unablässig schneite und immer kälter wurde, wurden in den geschlossenen Hallen die Teilnehmer bis in die feinsten Verästelungen ihres Seins dressiert und ihr von McDonald und dem heimischen Sofa unförmig gewordener Körperteig mit Gewalt in brauchbare Formen gedrückt. Bewegungsabläufe wurden so lange wiederholt, bis auch dem letzten Teilnehmer ein kalkulierter Zwang in die Automatik seines Verhaltens eingetrichtert werden konnte. Dies ist absolut notwendig für die Heldentaten, die die Turnerinnen und Turner an den bevorstehenden Wettkämpfen vollbringen müssen.
Heiteres Nachtessen in bester Gesellschaft
Im Anschluss an das Training ging es nicht minder hart weiter: wer beim Festen nicht mithalten kann, wird schnell abgeschrieben, daher geht auch hier jeder und jede an seine Grenzen. Ein solches Wochenende wünscht man wahrlich nicht seinem schlimmsten Feind. Doch genug der spitzen Feder und der dichterischen Übertreibungen, man muss auch mal loben können: Die Geselligkeit der Seuzemer Turnerfamilie ist unerreicht und die Stimmung immer super, dagegen kann weder hartes Training noch schlechtes Wetter etwas ausrichten. Am humorvollen Charakter der ganzen Truppe prallt noch jede Widrigkeit spurlos ab. In einer solchen glatten Runde kann man sogar trostlose Spiele wie «Lotto» spielen. An dieser Stelle wiederum ein Dank an das lokale Altersheim, welches uns jedes Jahr die Spielkarten ausleiht. Am diesjährigen Lotto lässt sich zudem bestens erläutern, warum Kenntnis der Vergangenheit wichtig ist und warum die Geschichtsblindheit der heutigen Jugend uns alle ins Verderben führen wird. Die beiden Spielleiter hatten nämlich in totaler Ignoranz vergangener Tragödien zu einer äusserst unklugen Spielregel eingewilligt, was von den heimtückischen Kameraden ohne Zögern ausgenutzt wurde und für die Spielleiter unschön endete. Man möge daraus für die Zukunft seine Lehren ziehen.
Sonntags-Challenge am Berg
Am Sonntagmorgen mussten die Jungturner, die zum ersten Mal dabei waren, noch den üblichen Initiationsritus über sich ergehen lassen. Dieser entspricht mehr oder weniger dem Inhalt eines durchschnittlichen Tiktok-Videos: Sie mussten einen steilen und stark verschneiten Acker hinunter- und heraufhasten, während im Hintergrund fieses Gelächter erschallte. Komplett sinnfrei, aber sehr wichtig für das Kollektiv. Nach ein paar weiteren Trainingseinheiten und einem kurzen Business-Lunch wurden wir dann vorzeitig aus der Haft entlassen.
Vielen Dank an Oberturner, Helfer und Leiter von TV und DTV für das gelungene Trainingsweekend. Wir sind nun alle einen Schritt näher an der Turnfestform. Hopp Seuzi!
Stefan Frey